Laubfärbung - Funktionen des ästhetischen Meisterwerks
von Claudio Niggli
Wenn der Herbst im Weinberg Einzug hält, bereiten sich die Reben wie fast alle anderen Pflanzen auf die bevorstehende Ruhephase vor. Sinkende Temperaturen und die Abnahme der Sonneneinstrahlung signalisieren der Pflanze, dass es Zeit wird, ihren Stoffwechsel umzustellen. Was wir Menschen als buntes Farbenspiel und raschelndes Blättermeer wahrnehmen, resultiert aus einer ebenso komplizierten wie genialen logistischen Leistung der pflanzlichen Biochemie.
Fehlendes Licht und Kälte verhindern, dass die Photosynthese auch im Winter stattfinden kann. Eine Weiterversorgung der Blätter mit Chlorophyll wird somit unnötig. Da in den Zellen der Blätter aber wertvolle Nährstoffe wie Stickstoff und Phosphor gespeichert sind, bemüht sich die Pflanze vor dem Blattabwurf, diese Nährstoffe zurückzugewinnen und über den Winter hinweg in ihren Wurzeln, Ästen und im Stock einzulagern. Bis auf die Zellwände werden möglichst alle Zellorganellen durch verschiedene Enzyme „demontiert“ und die Makromoleküle in kleinere, transportfähige Bausteine wie beispielsweise Aminosäuren zerlegt. Diese werden aus dem Blatt durch die Leitgefässe in Stamm und Wurzeln transportiert.
Wie am Delinat-Institut beobachtet werden konnte, scheinen gewisse Pflanzenschutzmittel eine verzögernde Wirkung auf den Rückzug der Nährstoffe zu haben. In allen mit Schwefel behandelten Rebzeilen hingen noch zahlreiche Blätter, wohingegen die mit Pflanzenpulver oder Kompostextrakt behandelten Reben die Blätter schon vollständig abgeworfen hatten. Mögliche Gründe dafür sind eine direkte Hemmung der Enzyme oder eine Störung jener Signalübertragungswege, welche den Abbau induzieren. Es kann auch sein, dass die Pflanze versucht, möglichst viel von dem Schwefel als Nährstoff über die Blattoberfläche zu resorbieren, bevor diese abgeworfen werden.
Durch den Abbau der Chloroplasten (Organellen der Photosynthese) und die Rückführung des Chlorophylls mit den daran gekoppelten Eiweißen verschwindet die grüne Farbe, wodurch andere Farbmoleküle wie Carotinoide und Xanthophylle sichtbar werden. Dies erklärt die vielfältige Verfärbung des Herbstlaubes. Die Gruppe der so genannten Carotinoide (Namensvetter ist die Karotte) umfasst Verbindungen von gelber bis orangener Farbe. Sie übernehmen im Blatt zwei zentrale Funktionen: den Schutz der Photosynthesemaschinerie vor aggressiven Stoffwechselprodukten wie z.B. freien Radikalen (Photoprotektion) und die Erweiterung des für die Energiegewinnung nutzbaren Spektrums des Sonnenlichts. Die Carotinoide werden später als andere Substanzen rückgeführt, was in Anbetracht der vielen freien Radikale, welche bei den Abbauprozessen entstehen, durchaus Sinn macht.
Während also die meisten der wiederverwendbaren Substanzen der Blätter abgebaut werden, gibt es auch einige Pflanzenstoffe, die die Pflanze erst jetzt für ihre Herbstblätter produziert. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Anthocyane, die zur Gruppe der Polyphenole gehören und von roter bis blauer Farbe sind. Zu ihrer Funktion gibt es verschiedene Theorien. Die geläufigste sagt, dass sie das Blatt während des Abbaus vor den herbstlichen Sonnenstrahlen schützen, die ja nun nicht mehr genutzt werden. Eine andere meint, dass sich die Pflanze durch die Polyphenole all der problematischen, nicht verwertbaren Molekülverbindungen entledigt, die dann mit dem Blatt abgeworfen werden. Eine neue Hypothese basiert auf der Idee, dass von den Anthocyanen eine täuschende Signalwirkung für Insekten ausgeht, so dass diese nicht über die altersschwachen Blätter herfallen.
Eine weitere, derzeit am Delinat-Institut untersuchte Hypothese besagt, dass die Pflanze durch die Einlagerung spezifischer Molekülverbindungen in den absterbenden Blättern die spätere Zersetzung der bald abfallenden Blätter durch die Bodenorganismen begünstig. Die Blätter werden also für die Zersetzung im Boden vorbereitet, indem die mikrobielle Zersetzer-Gemeinschaft durch Lockstoffe angezogen wird.
Mit Sicherheit ist nicht nur eine der erwähnten Hypothesen richtig. Fakt aber ist auf jeden Fall, dass auch während der Laubfärbung Energie in den Aufbau neuer Moleküle investiert wird und dies in irgendeiner Form einen Nutzen für die Pflanzen haben muss, da sich das Phänomen in der Evolution der Blütenpflanzen nicht zigfach unabhängig entwickelt haben und so lange hätte halten können.
Im dritten Teil unserer Serie über die agronomische Bedeutung der Biodiversität werden wir zu beschreiben versuchen, wie das abgeworfene Blatt wieder zu Nährstoff für die Mikroorganismen im Boden und über die verzweigten Wege der Mikroorganismengemeinschaft schließlich wieder als Pflanzennahrung rezykliert wird.
Siehe auch den ersten Teil der Serie: Biodiversität als landwirtschaftliche Methode.
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