Die Kunst gezielter Oxydation - Teil 1: Mostoxidation

von Volker Schneider

Sobald die Trauben geerntet werden, ist es vorbei mit ihrem schönen Leben an frischer Luft. Der Kellermeister setzt seinen ganzen Ehrgeiz daran, den Traubensaft von der ersten Minute an bis zur Abfüllung in Flaschen vor Luftkontakt zu schützen. Dabei entscheidet gerade der gezielt dosierte Einsatz von Sauerstoff über die aromatische Qualität und Stabilität von Weinen.

Wein nimmt in allen Phasen seiner Herstellung und Lagerung mehr oder weniger große Mengen an Sauerstoff auf. Dieser kann wie nur wenige andere Substanzen die sensorischen Merkmale und die Haltbarkeit der Weine beeinflussen. Seine potenzielle Wirkung hängt von der Menge ab, mehr aber noch von der Art des jeweiligen Weins und dessen momentaner Entwicklungsphase. Maßnahmen wie der gezielte Einsatz von Sauerstoff oder der Schutz vor seiner Aufnahme zählen daher zu den zentralen Fragen in der Önologie.

Eines der strittigsten Themen in diesem Zusammenhang ist der Einfluss des Sauerstoffs auf den Most in der Weißweinbereitung. Die dadurch ermöglichte Oxidation ist in den meisten Betrieben und Anbaugebieten der Welt gefürchtet, so dass man ihr mit dem frühzeitigen Einsatz von schwefliger Säure begegnet. Man weiß, dass Weißweine empfindliche Produkte sind, deren Oxidation zu irreparablen Schäden für Aromatik, Wohlgeschmack und Haltbarkeit führen kann. Für Generationen von Winzern wurde daher die Mostschwefelung zu einem unumstößlichen Dogma.

Eine Geschichte der Widersprüche

Die Notwendigkeit, den Most vor Oxidation zu schützen, wurde und wird jedoch in den verschiedensten Weinbauländern immer wieder in Frage gestellt. Diese Kontroverse ergibt sich aus divergierenden Aussagen in Hinblick auf die Qualität des späteren Weins, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. So wurden Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Österreich und Deutschland großtechnische Versuche durchgeführt mit dem Ziel, durch den gekoppelten Einsatz von SO2, Ascorbinsäure und Stickstoff während und nach dem Pressen eine Oxidation des Mostes völlig auszuschalten. Diese Versuche wurden alsbald eingestellt, weil es zu ernsthaften Problemen mit der Haltbarkeit der daraus resultierenden Weine kam.

Mitte der 1970er Jahre stellte man sich die Frage, wie stark man ungeschwefelte Moste belüften muss, um daraus einen oxidativ zerstörten Wein zu erzeugen. Überraschenderweise wichen derart erhaltene Weine kaum von dem gewohnten Geruchs- und Geschmacksbild ab und wurden oft sogar besser bewertet als die Vergleichsvarianten aus den nicht oxidierten oder eingeschwefelten Mosten (11, 12, 13, 17, 18, 21). Es wurde offensichtlich, dass die Oxidation des Mostes vor der Gärung nicht so schädlich ist, wie gemeinhin angenommen wurde, und dass sie anderen Regeln als die Oxidation des Weines folgt.

Auf diesen Erfahrungen aufbauend, wurde in den 1980er Jahren die aktive Mostoxidation als önologisches Verfahren entwickelt. Sie arbeitet mit dem gezielten Zusatz von Sauerstoff. Dies geschah vor dem Hintergrund der damals zunehmenden Industrialisierung der Traubenverarbeitung. Die Entwicklung der maschinellen Lese führte indirekt zu längeren Maischestandzeiten und zu stärkerer mechanischer Belastung des Leseguts innerhalb der nachfolgenden Transport- und Verarbeitungskette. Damit einher ging ein Anstieg des Phenolgehalts mit der Folge, dass die so hergestellten Weine zur raschen Bildung von Gerbigkeit und Altersfirne tendierten. Durch aktive Zufuhr von Sauerstoff zu den ungeschwefelten Mosten konnten die für die defizitäre Haltbarkeit der Weißweine verantwortlichen Phenole bereits vor der Gärung oxidiert, ausgefällt und mit dem Mosttrub abgetrennt werden ( 9, 12, 22).

Phenolische Substanzen sind die primären Sauerstoffakzeptoren im Wein. Die Erfahrungen mit der aktiven Mostoxidation zeigten deutlich, dass insbesondere flavonoide Phenole eine zentrale Rolle bei der oxidativen Alterung von Weißweinen und ihrer Neigung zur Entwicklung von Altersfirne spielen (20, 22, 26). Ihrer Kontrolle mittels spezifischer Analytik (24) kommt daher eine erhebliche Bedeutung zu. Werden sie bereits im Most entfernt, stehen sie zur Oxidation des Weines nicht mehr zur Verfügung. Werden sie umgekehrt durch SO2 im Most konserviert, bleiben sie für alterungsrelevante Reaktionen nach der Gärung erhalten. Mit einer gewissen Vereinfachung kann man sagen, dass die Mostschwefelung die Oxidation in das Stadium des späteren Weins verlagert. Diese Erkenntnisse gaben Anlass, das ganze Thema der Oxidation kritisch zu hinterfragen.

Tabelle 1 zeigt das breite Spektrum gradueller Unterschiede zwischen oxidativer und reduktiver Mostverarbeitung. Alle der dort aufgeführten Varianten und Extreme fanden und finden in der Praxis Anwendung, wobei in Abhängigkeit von Zeitgeist und vorherrschender Lehrmeinung die Tendenz mehr in die eine oder andere Richtung geht. Die Auswirkungen auf die Haltbarkeit des späteren Weins sind weit reichend.

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Im Zuge der technischen Entwicklung hin zu mechanisch schonenderen Verfahren der Traubenverarbeitung hat sich die Anreicherung kritischer Phenole in den Mosten während den letzten 10-15 Jahren wesentlich verringert. Damit einhergehend hat die aktive Mostoxidation ihre ursprüngliche Bedeutung weitgehend eingebüßt. Inzwischen reduziert sich die Kontroverse im Wesentlichen auf die Frage, ob vor der Gärung SO2 als Oxidationsschutz eingesetzt oder eine passive Oxidation erlaubt werden soll. Als Argument gegen die oxidative Mostverarbeitung werden Aromaverluste angeführt, während ihre Befürworter auf die aromatische Stabilität und Haltbarkeit der so erhaltenen Weine hinweisen.

Die Haltbarkeit bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die oxidative Alterung mit Altersfirnen als Folge. Sie betrifft alle Weißweine, während anormale Varianten der Alterung wie der UTA pathologische Abweichungen von der Regel mit weinbaulichen Ursachen darstellen.

Unterschied zwischen Most- und Weinoxidation

Die Sauerstoffaufnahme ungeschwefelter Moste führt zu einer Bräunung und geruchlichen Veränderung hin zu brotigen Aromanoten. Diese Beobachtung kann zu einer emotionalen Hemmschwelle führen, wenn man die Oxidation des Mostes mit der des Weines verwechselt und erwartet, dass sich die genannten Veränderungen auf den Jungwein nach der Gärung übertragen. Die fundamentalen Unterschiede zwischen Most- und Weinoxidation lassen sich wie folgt zusammenfassen:

- Die Oxidation des Mostes ist enzymatischer Natur und wird durch die traubenbürtigen Polyphenoloxidasen ausgelöst, welche den Sauerstoff auf Phenole übertragen. Sie ist rascher und substratspezifischer als die rein chemische Oxidation des Weins (6).

- Im alkoholfreien Most flocken die oxidierten Phenole mangels Löslichkeit aus, während sie im alkoholischen Milieu des Weins löslich bleiben und sich sensorisch mitteilen (22).

- Die enzymatische Oxidation des Mostes liefert als Nebenprodukt nur Wasser, während bei der chemischen Oxidation des Weins eine Reihe äußerst reaktiver Sauerstoffradikale einschließlich Peroxiden mit weitreichenden Konsequenzen für die Sensorik anfallen (30).

Durch die Oxidation des Mostes werden phenolische Substanzen aller Art gemindert, primäres Ziel ist jedoch die weitgehende Ausflockung so genannter flavonoider Phenole. Diese werden in variablen Mengen während der Traubenverarbeitung aus Kernen, Schalen und Stielen herausgelöst, wobei die mechanische Belastung des Leseguts und die Maischestandzeiten von entscheidender Bedeutung sind (4, 27, 28, 29). Sie sind die Vorläuferstufen späterer Gerbstoffe im Wein und sind an der Ausbildung von Altersfirnen wesentlich beteiligt. Als einzige Phenolfraktion sind sie zur Bildung von Hochfarbigkeit befähigt (20, 22).

Abbildung 1 verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Bräunung und Flavonoidgehalt in ungeschwefelten Weinen nach der Filtration. Das Bräunungspotenzial flavonoider Phenole ist hier nur das visuell wahrnehmbare Indiz für die ihnen innewohnende chemische Reaktivität während der Lagerung und der Alterung. Optimal stabile Weißweine weisen weniger als 5 mg/l Flavonoide auf. Ein direkter Zusammenhang mit dem umfassenderen Gesamtphenolgehalt besteht nicht.

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Abbildung 2 zeigt, dass mit einer gewissen Abhängigkeit vom einzelnen Most 10-30 mg/l O2 aufgenommen und enzymatisch umgesetzt werden müssen, um eine zufriedenstellende Ausflockung flavonoider Phenole zu erreichen. Unter den Bedingungen schonender Traubenverarbeitung kann die passive Sauerstoffaufnahme während des Pressens und der Verarbeitung der Moste ausreichend sein. Die Verfügbarkeit von Sauerstoff und die Aktivität der Phenoloxidasen sind die entscheidenden technischen Parameter. In Anwesenheit von SO2 werden die Oxidasen weitgehend inaktiviert (6). Damit sind die Phenole gegen Oxidation geschützt, in Lösung stabilisiert und finden sich im späteren Wein wieder. Der Most bleibt grün.

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Werden durch Oxidation gebräunte Moste filtriert, ergibt sich ein Filtrat normaler, grün-gelber Farbe. Diese Beobachtung belegt, dass die für die Bräunung verantwortlichen Substanzen bereits als Feststoffe ausgeflockt sind und mechanisch abgetrennt werden können. Sie tendieren zur natürlichen Sedimentation. In diesem Zusammenhang ist die Schärfe der Mostvorklärung von entscheidender Bedeutung. Der Resttrub des geklärten Mostes sollte keineswegs mehr als 0,5 Gewichtsprozent oder 100 NTU betragen um sicherzustellen, dass die ausgeflockten Phenole weitgehendst entfernt werden. Andernfalls lösen sie sich nach der Gärung durch Alkohol und schweflige Säure wieder zurück. Der stabilisierende Effekt einer oxidativen Mostverarbeitung wird hinfällig, wenn der Most schlecht geklärt in die Gärungsphase eintritt.

Der Gehalt an verbleibenden flavonoiden Phenolen, die sensorische Qualität und die aromatische Stabilität des Weins hängen stark von der objektiv beurteilten Klärschärfe ab. Dabei ist es zweitrangig, mit welchem Verfahren die Mostvorklärung erfolgt. Die durch Flotation erreichte Klärschärfe genügt allen Kriterien. In Verbindung mit Luft als Betriebsgas erlaubt sie die Kombination von aktiver Mostoxidation und Mostvorklärung in einem Arbeitsgang. Sedimentation kann vergleichbare Resultate liefern, wenn sie durch Einsatz pektolytischer Enzyme unterstützt wird. Filtration hingegen ist zu scharf und führt meist zu Gärproblemen.

Selbst nach der Vorklärung haftet dem Most noch eine braune Farbe an. Unter den extrem reduktiven Bedingungen der alkoholischen Gärung sowie durch Adsorption auf Hefe verschwindet sie am zweiten Gärtag genau so vollständig wie die oxidierte Aromanote. Mostoxidierte Weine zeigen nach der Gärung die bekannte helle Farbe, die selbst ohne SO2 stabil bleibt (22). Diese Farbstabilität unter den Bedingungen des Bräunungstests spiegelt nichts anderes als die Beständigkeit des Weins gegenüber oxidativ bedingten Veränderungen in Geruch und Geschmack während der Alterung wieder.

Die Mostoxidation schließt den Einsatz schwefliger Säure nicht grundsätzlich aus, falls diese aus mikrobiologischen Gründen bei faulem Lesegut oder zur Einleitung einer Spontangärung erwünscht ist. In diesem Fall wird sie nach der Mostvorklärung zugesetzt, wenn der ausgeflockte Phenoltrub bereits abgetrennt ist. Andererseits tun geringste Mengen SO2 von bis zu 30 mg/l der Mostoxidation keinen Abbruch, wenn sie durch eine genügend hohe Sauerstoffaufnahme entfernt werden. Dies geschieht insbesondere bei der Flotation mit Luft.

Sensorische Folgen oxidativer Mostverarbeitung

Die bessere Haltbarkeit der aus oxidierten Mosten bereiteten Weine wird längst nicht mehr in Frage gestellt, doch sieht sich das Verfahren dem entscheidenden Vorwurf ausgesetzt, die Aromatik der Weine in Mitleidenschaft zu ziehen. Die zahlreichen Studien (1, 2, 3, 4, 5, 7, 8, 10, 14, 15, 16, 19, 23, 25), die weltweit über die Mostoxidation durchgeführt wurden, sind aber nicht ohne Grund widersprüchlich. Übereinstimmung herrscht über eine Minderung flüchtiger Phenole (7, 19) sowie flüchtiger Schwefelverbindungen (8) mit entsprechend geringerer Böckserneigung (11, 12, 13) in den aus oxidierten Mosten hergestellten Weinen. Unter gleichen Bedingungen wurden mehr Acetate, höhere Alkohole und Aldehyde sowie Fettsäuren und deren Ester beobachtet (8). Unbestritten sind auch die Eliminierung von Gerbstoffen und die verbesserte Oxidationsbeständigkeit mostoxidierter Weine. Widersprüche ergeben sich insbesondere hinsichtlich der sensorisch umsetzbaren Aromatik. Sie erklären, warum beide Extreme der Mostverarbeitung ihre Befürworter haben. Was sind die Gründe für solche Widersprüche?

Frage des Zeitpunkts der Beurteilung

Unkontrollierte technische Rahmenbedingungen wie die Schärfe der Mostvorklärung oder die Behandlung und Lagerung des vergorenen Weins vermögen die Ergebnisse im Einzelfall zu beeinflussen. Vor allem aber spielt der Zeitpunkt der sensorischen Bewertung eine entscheidende Rolle. Adstringens und Bitternoten existieren nicht a priori in einem jungen Weißwein, sondern äußern sich erst, wenn Flavonoide im Verlauf der Alterung zu Gerbstoffen polymerisieren. Damit hängt ihre sensorisch wahrnehmbare Intensität vom chemischen Alter des Weins und dem Zeitpunkt seiner Beurteilung ab. Ähnliches gilt für die Aromatik.

Abbildung 3 zeigt am Beispiel eines Rieslings, dass die Mostoxidation tatsächlich zu einer verminderten Fruchtaromatik im jungen Wein führen kann, hier fünf Monate nach Ende der Gärung. Die Bewertung wurde nach den Kriterien der Profilanalyse gegen Referenzlösungen durchgeführt. Auf Grund der schonenden Traubenverarbeitung und der geringen Phenolbelastung war die Auswirkung auf die Adstringens in diesem Fall nur marginal. Bei einer zweiten Verkostung der abgefüllten Weine fast ein Jahr später ergaben sich entgegengesetzte Verhältnisse (Abb. 4). Die mostoxidierten Varianten wiesen nun signifikant höhere Intensitäten für alle fruchtigen Aromanoten auf. Diese wurden in den reduktiv vinifizierten Varianten durch Aromanoten der Altersfirne graduell maskiert.

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Die beschriebenen Beobachtungen sind nicht systematisch, aber typisch. Jungweine aus sehr reduktiv verarbeiteten Mosten weisen in den ersten Wochen und Monaten nach der Gärung oft eine stärkere Aromatik auf als solche aus oxidierten Mosten; wobei dieses Mehr an Aroma nicht unbedingt sortentypisch sein muss. Bleibende Aromaeinbußen sind ausschließlich bei Sauvignon blanc möglich (15), weil das Aroma dieser Rebsorte teilweise aus schwefelhaltigen Thiol-Verbindungen besteht, welche analog zu den Thiol-Verbindungen der Böckser durch Oxidation irreversibel zerstört werden. Die momentane Tendenz zur hyper-reduktiven Mostverarbeitung, wie sie besonders durch Vertreter der australischen Schule neu entdeckt und propagiert wird, ist u. a. vor dem Hintergrund des spezifischen Verhaltens dieser Sorte zu sehen.

Die schon seit 40 Jahren bekannten Folgen hyper-reduktiver Vinifikation haben sich indessen nicht verändert: Sehr reduktiv verarbeitete Moste führen zu starken Verlusten an Frucht- und Sortenaroma nach der Abfüllung. Sie liefern äußerst fragile Weine, die für den schnellen Konsum bestimmt sind, nie jedoch langlebige Weißweine. Die unbestrittene Notwendigkeit eines reduktiven Weinausbaus nach der Gärung kann nicht ohne Weiteres auf die Mostbehandlung übertragen werden.

Obwohl die reduktive Mostverarbeitung in vielen Fällen eine stärkere Aromaintensität im Stadium des jungen Weins ergeben mag, kehren sich die Verhältnisse mit fortschreitender Lagerung um. Dies geschieht umso schneller, je stärker der Most eingeschwefelt wurde, je höher seine Flavonoidbelastung ist und je mehr Sauerstoff der Wein während Ausbau, Füllvorbereitung und durch den Flaschenverschluss aufnimmt. Die Fruchtaromen mostoxidierter Weine sind über die Zeit stabiler, während sie in den flavonoidreicheren Vergleichsvarianten durch eine zunehmende Altersfirne maskiert werden. Positive Effekte der Mostoxidation sind keineswegs im Stadium des Jungweins zu beobachten, sondern kommen erst bei der Alterung zum Tragen. Insofern ist die oxidative Mostverarbeitung eine Investition in die Zukunft des Weins mit dem Ziel einer besseren Stabilität von Geruch und Geschmack. Unglücklicherweise werden sensorische Vergleiche meist an jungen Weinen durchgeführt, ohne den Alterungseffekt zu berücksichtigen.

Die reduktive Mostverarbeitung setzt eine schonende Traubenverarbeitung voraus, um den Phenoleintrag gering zu halten, und ein noch reduktiveres Vorgehen bei Ausbau und Lagerung der Weine zu ermöglichen. In der Praxis ist oft das Gegenteil der Fall. In einer typischen Situation stellt der Winzer fest, dass sich seine Weine in die gerbige und oxidative Richtung entwickeln. Er reagiert darauf mit Reparaturen durch entsprechende phenolmindernde Schönungsmittel. Der mit derartigen Reparaturen verbundene Sauerstoffeintrag beim Rühren und Filtrieren kommt solchen sensiblen Weinen am wenigsten entgegen. Einbußen in Geschmack und Aromatik sind die Folge. Besteht die Antwort auf eine oxidative Weinentwicklung gar in einer noch reduktiveren Mostverarbeitung, schließt sich ein Teufelskreis.

Grundsätzlich sind alle Schönungsmittel zur Minderung störender Phenole im Weißwein nicht nur strapaziös, sondern auch weniger effizient und weniger spezifisch als eine Phenolminderung durch natürlich ablaufende, enzymatisch induzierte Reaktionen im oxidativ verarbeiteten Most. Es ist die vordringliche Aufgabe der Önologie, strapazierende Reparaturen im Weinstadium überflüssig zu machen.

Frage der Gewohnheit und des gesuchten Stils

Bei sensorischen Auswertungen wird oft nach der subjektiv wahrgenommenen Qualität der Varianten gefragt. Die Prüfer antworten darauf in Funktion des Weintyps, den sie gewöhnt sind oder persönlich bevorzugen. Deshalb sind Prüfergruppen bei Präferenzproben immer gespalten.

Flavonoide Phenole führen zu Gerbstoffen, die dem Wein geschmackliche Inhalte verleihen, welche mostoxidierte Weine nicht aufweisen. Im Vergleich mit einem flavonoidbelasteten Kontrollwein kann die mostoxidierte Variante so weniger Mundfülle zeigen. Dies kann in einem Fall als rassig, weich, rund oder feinfruchtig interpretiert werden, aber auch als dünner und ausdrucksloser in einem anderen Fall. Ein flavonoidbelasteter Weißwein kann für einen Prüfer körperreich und voll sein, für einen anderen Verkoster jedoch kantig, hart und plump. Kurzlebig ist er auf jeden Fall. Alles ist eine Frage des Weintyps, den man gewöhnt ist.

Die weit verbreitete Reparatur gerbiger Weißweine mit umsatzträchtigten Schönungsmitteln belegt, dass Gerbstoffe in der Mehrzahl der Fälle als der Qualität abträglich aufgefasst werden.

Frage des Marktsegments

Die Frage der Mostschwefelung lässt sich nicht auf die simplifizierten Kategorien von gut oder schlecht reduzieren. Die reduktive Mostverarbeitung kommt einer Tendenz entgegen, hoch aromatische Weißweine für den schnellen Konsum zu produzieren. Während solche Weine im jungen Stadium hoch prämiert werden mögen, gibt ihre aromatische Qualität nach dem Sommer des Folgejahres eher Anlass zu euphemistischer Rhetorik. Positiv gealterte Weißweine sind die Ausnahme. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Nachfrage nach überwiegend  jungen Weißweinen. Beeindruckende Bewertungen abgelagerter Rotweine aus dem Spitzen- und Kultsegment sind bei älteren Weißweinen weitgehend unbekannt. Dabei handelt es sich um die Reaktion des Marktes auf eine weit verbreitete Neigung, der Produktion von Geruchs- und Geschmacksprofilen im Weißweinbereich mehr Bedeutung als ihrer Konservierung beizumessen.

Ohne Zweifel sind jugendliche, aromatisch lärmende Weißweine ohne jegliche Ansprüche an die sensorische Stabilität wesentliche Umsatzträger für jeden Weinbaubetrieb. Sie werden weltweit hergestellt und sind innerhalb gewisser Grenzen sogar austauschbar. Eine Prämierung vermittelt ein Gefühl der Sicherheit und schnellen Markterfolg. Die Situation relativiert sich jedoch rasch, wenn der Wein das Genussempfinden der Verbraucher befriedigen muss, nachdem die Flaschen einige Tage im sonnenexponierten Exportcontainer im Hafen, einige Wochen in den Regalen des Fach- oder Lebensmittelhandels oder gar viele Monate in der wohlbeheizten Wohnung der Konsumenten gelagert wurden. Es ist äußerst lehrreich für jeden Erzeuger, seine eigenen Weine nach derartigen Lagerbedingungen erneut und unvoreingenommen zu verkosten. Spektakuläre Aromen im Jungwein nützen wenig, wenn sie zum Zeitpunkt des Konsums bereits zusammengebrochen sind.

Zusammenfassung

Reduktive Mostverarbeitung durch SO2 vor der Gärung führt zu einer tendenziell stärkeren Aromatik im Stadium des Jungweins als oxidativ verarbeitete Moste, aber auch zu mehr Gerbigkeit. Mit der Dauer der Lagerung drehen sich die Verhältnisse um. Weine aus oxidierten Mosten sind haltbarer mit mehr Fruchtaroma und weniger Firne im Alter. Die Oxidation des Mostes hat nichts mit der Oxidation des Weins zu tun und wirkt dieser sogar entgegen.

Das Quellen- und Literaturverzeichnis finden Sie hier: Literaturliste

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