Naturwein - bloße Mode oder Kunst ?
von Claudio Niggli
Der moderne Weinkeller als Industrie-Labor
Viele Weintrinker sind nach wie vor der Überzeugung, dass jeder Wein ein naturbelassenes Produkt sei. Das Gegenteil ist jedoch der Normalfall. Vieles, was sich Wein nennt, ist im Grunde nur fahrlässig manipulierter Traubensaft. Bei der standardmäßigen Produktion wird das Traubengut noch vor der Gärung durch schweflige Säure sterilisiert. Alle natürlichen Hefen, welche im Weinberg heimisch sind, werden ebenso wie das mikrobielle Weinleben abgetötet. Danach wird industriell produzierte Reinzuchthefe beigegeben - ein Milliardenmarkt für Biotech-Firmen. Nach der alkoholischen Gärung kommen selektionierte Bakterien für den Abbau von Milchsäure zum Einsatz, worauf das weinähnliche Getränk dann abermals mit schwefliger Säure „stabilisiert“ wird.

Ist der Säuregehalt zu hoch, um es mit dem Modeprofil vereinbaren zu können, wird dieser kurzerhand durch Zugabe von Basen gesenkt; und ist der Säuregehalt zu niedrig, wird nachgesäuert. Durch Temperaturregulation während der Gärung lassen sich intensiv fruchtige Primäraromen entwickeln. Umkehrosmose ist bei Übererträgen ein besonders beliebtes physikalisches Mittel, um Flüssigkeiten aufzukonzentrieren, womit der Eindruck eines gehaltvolleren Weins entsteht. Filtration und Schönung entfernen Hefe- und andere Trubpartikel, wodurch der Wein zwar kristallklar wird, aber maßgebliche Aromakomponenten verloren gehen. Vor der Abfüllung wird noch einmal die schweflige Säure aufkonzentriert, was aber die Effizienz konservierender weineigener Antioxidantien massiv vermindert. Durch neue Barriques, oder im schlimmsten Fall Holzchips, erhält der Wein eine mehr oder weniger ausgeprägte Vanille-Zigarrenkistchen-Aromatik aufgesetzt.
Diese im oberen Absatz beschriebenen Standardmethoden gehören allesamt zu den sogenannten sanften Vinifiziertechniken. Das wahre Horrorkabinett öffnet sich erst, wenn man in die Liste der für die konventionelle Weinproduktion zugelassenen Verfahren schaut: (Verzeichnis der zugelassenen önologischen Verfahren und Behandlungen, Deutsches Weingesetz) .
Besonders brisant an dieser Liste ist, dass in der EU die Verwendung von önologischen Hilfsmitteln für Bioweine im Gegensatz zum Traubenanbau bisher nicht standardmäßig geregelt ist. In den meisten Ländern sind also die in der obigen Liste aufgeführten Techniken und Zusätze auch für zertifizierte Bioweine nach wie vor erlaubt. In dieser Hinsicht nimmt Delinat eine Pionierrolle ein, denn in den Delinat-Richtlinien wurden von Beginn an auch die Kellertechniken in die Biozertifizierung einbezogen. In den neuen, 2010 in Kraft getretenen Richtlinien wurden die erlaubten Mittel und Methoden noch einmal deutlich eingeschränkt, um sich der Zielvorgabe gänzlich naturbelassener Weine zu nähern (Delinat Richtlinien 2010). Ab Herbst 2010 werden zudem für jeden Wein sämtliche angewandten Methoden und Mittel auf einer entsprechenden Internetseite öffentlich zugänglich gemacht.
Mit den industriell üblichen Vinifizierungstechniken entstehen jene gestylten, marktwirtschaftlich perfekten Modeweine, welche die breite Masse ansprechen. Es sind unkomplizierte, anonyme, weiche und vermeintlich gehaltvolle Weine, welche mit intensivem Bouquet auftrumpfen. Mit ihrer glatten Gefälligkeit finden sie besten Zuspruch beim unbedarften Käufer, entbehren aber eigenständigen Charakter und lassen jegliche „Ecken und Kanten“ vermissen. Die Jahrgangschwankungen sind infolge der vielen gezielten Eingriffe entsprechend gering.
Der Verbraucher als Gewohnheitsmensch
Es gehört zu den Eigenheiten des Menschen, dass er sich gerne an gewisse Geschmacksrichtungen gewöhnt. Produkte, welche mit reichlich geschmacksverstärkenden Zusätzen versehen sind, verkaufen sich heutzutage besonders gut, denn als produktive Individuen der westlichen Leistungsgesellschaft nimmt man sich kaum mehr die Zeit für gustatorische Finessen – wir stumpfen mehr und mehr ab. Reizüberflutung und Zeitdruck sind Gift für eine intensive, bedächtige und interessierte Auseinandersetzung mit unseren Sinneswahrnehmungen und mit Genussmitteln. So produziert die Lebensmittelindustrie mehr und mehr nichtssagende Fastfood-Qualität, die jeglichen Bezug zum Ursprung der natürlichen Zutaten vermissen lässt. Das macht sich auch in der Weinindustrie bemerkbar.

Schon durch die Wahl ihrer ersten Weine zwingen die nichts ahnenden Jungkunden ihrer Geschmackswelt bereits eine bestimmte Richtung auf. Die nächsten Weine werden bereits nach diesen vorformatierten Geschmacksbildern ausgewählt. Was einmal gefiel, wird immer wieder gekauft. Manche Weintrinker behalten diese Tendenzen fast ein Leben lang bei, und was nicht dem einen gewohnten Profil entspricht, wird für schlecht gehalten. Sichere Werte sind gefragt, eine Umgewöhnung des Geschmacks wird nicht für notwendig gehalten. So erwarten die meisten auch, dass ihre Lieblingsweine jedes Jahr identisch schmecken und dem wird durch die übermäßig gewinnorientierten Weinproduzenten bereitwillig Rechnung getragen.
Wein trinken und mögen lernen
Im Allgemeinen herrscht also der Irrglauben, dass Geschmack etwas Vorbestimmtes, Unabänderliches ist. Aber wer sich für Neues, Ungewohntes öffnen kann, dem ist eben auch die Chance vergönnt, dass sich das Spektrum seiner Vorlieben erweitert, sich der Geschmack verfeinert und ganz neue Horizonte öffnen. Schönheit liegt im Auge des Betrachters – Wohlgeschmack im Munde des Genießers.
Wir lassen uns viel zu oft vom ersten Eindruck beeinflussen und verurteilen voreilig, was nicht Bekanntem und Gewohntem entspricht. In diesem Zusammenhang wird ein Aspekt gerne vergessen: Jede sensorische und somit auch geschmackliche Wahrnehmung wird beeinflusst durch Faktoren wie Tageszeit, emotionale und psychische Verfassung, physische Konstitution, kulinarische Begleitung und durch die Atmosphäre des Ortes. Wer z.B. gelernt hat, dass gerbstoffreiche, die Schleimhaut trocknende Weine wenigstens durch kleine öl- oder fetthaltige Häppchen begleitet werden sollten, dem eröffnet sich plötzlich eine neue, aufregende Welt. Auch wichtige weinbezogene Parameter wie Trinktemperatur, Sauerstoffzufuhr, Alter, ja sogar die Form des Glases werden oft vernachlässigt. Diese Einflussgrößen sind vor allem für den Genuss von komplexen, qualitativ hochwertigen Weinen wichtig. Je „gemachter“, also je stärker manipuliert ein Wein ist, umso mehr treten diese Faktoren in den Hintergrund.
Viele Weintrinker erwarten von teuren Weinen aus niedrigen Erträgen, dass sie sich alkoholreich, hocharomatisch und schwer präsentieren. Es sollen Typen sein mit sehr viel Extrakt. Für einen Wein mit besonders ausgewogener Struktur, also einem elegant wirkenden Verhältnis von Säure, Gerbstoffen, Alkohol und restlichem Extrakt, würden die wenigsten Normalverbraucher nach einer Blinddegustation einen ähnlich hohen Betrag ausgeben, denn der Preis wird mit Qualität, und Qualität mit Wucht, gleichgesetzt. Auch deshalb haben authentische, etwas schlankere Spitzen-Naturweine (z.B. aus kühleren Lagen) nicht selten einen schweren Stand.
Natürliche Weine als unstete Verwandlungskünstler
Bei der Produktion von natürlichen Weinen aus ökologischem Anbau wird weitestgehend auf oben genannte Manipulationen bei der Weinbereitung verzichtet. Der ganzheitliche, naturnahe Ansatz im Anbau findet seine logische Fortsetzung im Keller. Das Traubengut stammt von nachhaltig bewirtschafteten Weinlagen, und wird nicht durch Dünger und Pflanzenschutzmittel übergewichtig und ungesund. Die Trauben enthalten mehr wertvolle sekundäre Pflanzenstoffe, wie z.B. Tannine, Alkohole, Mineralien und Vitamine. Der Winzer ist bestrebt, das Terroir im natürlich ausgereiften Wein auszudrücken, wodurch der Wein zum Spiegel der Rebsorte, der rebeigenen Hefen und anderer lokaler Gegebenheiten, wie Boden und Klima, wird.

Diese naturnahe Weinbereitung bringt mit sich, dass die schwankenden Einflüsse des Jahreswetters stärker spürbar werden, was im Jahrgangsvergleich zu großen Unterschieden im Weincharakter führen kann. Durch die spontane Vergärung mit reb- und kellereigenen Weinhefen kommt ein bedeutendes Unsicherheitselement in der ganzen Produktionskette hinzu, denn die Hefezusammensetzung im Weinberg und Keller schwankt mit den wechselnden Umweltfaktoren. Der diffizile Prozess der Vergärung ist dem Zusammenspiel der Mikroorganismengemeinschaft und der schwankenden Traubenqualität unterworfen. Diese können, wenn der Kellermeister falsch reagiert, das Aroma eines Naturweins so stark beeinflussen, dass er unwiderruflich verdirbt. Aceton, Acetaldehyd, Essigsäureethylester oder Schwefelwasserstoff sind nur einige Beispiele von unangenehm riechenden flüchtigen Stoffen, die die Existenz eines Naturwinzers gefährden können. Naturweine, die wirklich nur aus Trauben und frischer Luft vinifiziert werden, lassen sich nicht nach Schema und Lehrbuch herstellen, sondern brauchen viel Erfahrungen und Einfühlungsvermögen. Erst im Naturwein zeigt sich letztlich die wirkliche Meisterschaft und Kunst eines Winzers (siehe auch: Weine aus Trauben und frischer Luft, sonst nichts).
Saubere, gut überwachte und sensible Arbeit im Keller muss das Credo jedes Naturwinzers sein, denn nur so kann er das komplizierte Zusammenspiel der über 2000 natürlichen Weininhaltsstoffe optimal lenken. Sonst bezahlt der Naturwinzer unweigerlich den Preis für sein Risiko, wenn seine Weine aufgrund von Fehltönen als ungenießbar eingeschätzt werden. Durch den Verzicht auf Filtration und Schönung verbleiben vermehrt Bestandteile der Hefe und der Trauben im Wein, was die Aromatik ebenfalls entscheidend beeinflusst. Die Zugabe von schwefliger Säure wird auf den Zeitpunkt vor der Abfüllung reduziert, einige erfahrene Naturwinzer verzichten ganz darauf.
All die genannten Faktoren führen dazu, dass eine Voraussage der Weinentwicklung in der Flasche sehr schwierig ist. So lässt sich bei Naturweinen vermehrt feststellen, dass sie nach der Abfüllung Phasen durchlaufen, bei welchen komplexe biochemische und physikalische Prozesse im Spiel sind. So kann sich ein und derselbe Wein in einem Monat unharmonisch zeigen, in einem weiteren mit all seinem Reichtum offenbaren; heute präsentiert er sich fruchtig, morgen stehen vielleicht eher mineralische und holzige Noten im Vordergrund. Manche Weinhändler sind überzeugt, dass auch Wetterwechsel; Mondphasen und Luftdruck eine Rolle spielen, was aus physikalischer Sicht durchaus nachvollziehbar ist.
Während sich in Deutschland erst nach und nach herumspricht, was einen Naturwein von Industrie- und sogar von traditionellen Bioweinen unterscheidet (siehe u.a. Naturweinrally), hat sich in Frankreich, Belgien und der romanischen Schweiz bereits eine ganze Bewegung von Naturwinzern und Naturwein-Degustatoren formiert. Besonders hervorzuheben ist hier die Association des Vins Naturels (AVN), deren weit über 100 Winzer sich zur Einhaltung der Charta für natürliche Vinifizierung verpflichtet haben.
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