Vielfältiges Leben in und auf den Blättern der Rebe

von Claudio Niggli & Hans-Peter Schmidt

Verborgen vor dem bloßen Auge wimmelt es auf Blüten und Blättern von unzähligen winzigen Lebewesen. Ein ungeheuer komplexes Universum, von dem bis vor kurzem noch wenig bekannt war. Dabei hängt die Gesundheit einer Pflanze ganz entscheidend von ihrem Zusammenspiel mit all diesen Mikroorganismen ab. Wer blindlings einige Schädlinge mit Pestiziden ausrottet, tötet dabei vor allem die Nützlinge und hilft so wiederum vor allem den Schädlingen.

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Würde man alle Blätter aller Pflanzen der Erde zu einer Fläche zusammenlegen, wäre diese fast doppelt so groß wie die gesamte Erdoberfläche einschließlich aller Ozeane und Gebirge. Insofern die Blätter primär zur Aufnahme von Sonnenenergie und Kohlendioxid dienen, liesse sich dies auch so vorstellen, dass die Erde von einer doppelten Hülle pflanzlicher Solarzellen umgeben ist, die der Atmosphäre zudem CO2 entziehen. (…dies nur als eindrückliche Veranschaulichung der enormen Dienstleistungen des Ökosystems, während wir uns ja schon rühmen und für Weltmeister der CleanTech halten, wenn 3% der Hausdächer mit Solarpanels ausgestattet wurden…)

Die Blätter der Pflanzen jedoch sind nicht nur effiziente Energieerzeuger, sondern insbesondere auch Lebensraum für Insekten und vor allem für Mikroorganismen wie Bakterien, Hefen, Pilze, Algen. Auf einem Gramm Blattfrischmasse lassen sich je nach Jahreszeit und Klimazone mehrere Millionen Bakterien und Hefen nachweisen [Behrendt 2004]. So leben auf und in den Blättern eines begrünten und nicht mit Pestiziden gespritzten Weinbergs von einem Hektar viele Billiarden Mikroorganismen mit einem Gesamtgewicht von über 30 kg.

Ein bedeutender Teil dieser Mikroorganismen lebt von Nährstoffen, die die Pflanze über die Blätter ausscheidet oder die sich durch Umwelteinflüsse auf den Blättern ablagern. Sie konkurrieren dabei mit ihrem "Wirt" um Licht und Wasser, sind aber nur selten reine Parasiten, sondern leben häufig in Symbiose mit der Pflanze.

Der Lebensraum auf der Blattoberfläche wird Phyllosphäre genannt (phyllos = gr. Blatt), wobei auch die durch Einstülpungen entstehenden Innenräume der Blätter hinzugezählt werden. Mikroorganismen gelangen durch Wind, Staub, Regen, Spritzwasser oder kleinere wie größere Tiere auf die Blattoberfläche. Diese Bakterien und Pilze leben von ausgeschiedenen und ausgewaschenen Kohlehydraten der Wirtspflanze sowie von Nährstoffen, die durch Wind und Regen auf die Blätter gelangen. Eine weitere Nährstoffquelle sind Stoffwechselprodukte von Insekten und anderen Tieren.

Erforschung der Phyllosphäre

Die Phyllosphäre ist ähnlich wie die Rhizosphäre bisher nur sehr wenig erforscht. Erst durch die Weiterentwicklung von molekularbiologischen Techniken gelingt es Forschern nach und nach, die unvorstellbare Vielfalt der Mikroorganismen zu verstehen und in funktionale Ordnungen zu bringen. Während sich Tiere und Pflanzen aufgrund mehr oder weniger gut sichtbarer äußerer und funktionaler Merkmale in Arten klassifizieren lassen, gestaltet sich dies im Mikrokosmos äußerst schwierig. Einzeller oder Wenigzeller sind in ihrer äußeren Gestalt nur wenig differenziert. Je kleiner diese Organismen sind, umso größer wird die Herausforderung, allfällige Unterschiede zu erkennen. Mit Technologien wie der Elektronenmikroskopie sind hier große Verbesserungen möglich geworden. Eine bedeutend feinere Auflösung zur Erkennung und Beschreibung eines Organismus und seiner Zugehörigkeit zu einer systematischen Einheit bietet jedoch die Analyse der DNA-Codes. Dank moderner molekularbiologischer Methoden ist es auch möglich, Veränderungen in mikrobiellen Lebensgemeinschaften zu analysieren, ohne alle einzelnen Arten genau zu kennen [Hoffmann 2004, Engelen et al. 1998]. Eine vielversprechende neue Technik ist dabei die Beschreibung von mikrobiellen Gemeinschaften mittels einer Proteom-Analyse, bei der die Gesamtheit der Stoffwechsel-Eiweiße der Organismen aufgeschlüsselt wird [Delmotte et al. 2009].

Symbiosen von Pflanzen und Pilzen in den Blättern

Der Pilz Microsphaeropsis greift einen schädlichen Rostpilz an. Lichtmikroskopische Aufnahme eines Johnnisbeer-Blattes.
Der Pilz Microsphaeropsis greift einen schädlichen Rostpilz an. Lichtmikroskopische Aufnahme eines Johannisbeer-Blattes.

Symbiosen zwischen Pflanzen und Pilzen über die Blätter sind eine relativ neue Entdeckung. Zahlreiche fadenförmige Pilzarten leben auf und in Blättern, ohne der Pflanze zu schaden. Einige davon halten z.B. schädliche Rostpilze von den Blättern fern, indem sie diese attackieren. Andere produzieren giftige Alkaloide, die bestimmte Insekten oder auch Wirbeltiere fern halten und so als Fraßschutz für die Pflanze funktionieren. Auch hier profitieren beide Partner und verschaffen sich einen Überlebensvorteil. Die Pilze erhalten Nährstoffe von der Pflanze, welche ihrerseits vor hungrigen Herbivoren geschützt wird.

Die Pflanze gewährt nützlichen Pilzen die Besiedelung von Hohlräumen und Zellzwischenräumen im Blatt und versorgt sie wahrscheinlich direkt mit Kohlehydraten. Die Pilze dringen dabei über die Spaltöffnungen oder auch Stomata in die sogenannten Atemhöhlen der Blätter. Die Spaltöffnungen, über welche Wasser, Sauerstoff und Kohlendioxid mit der Atmosphäre ausgetauscht werden, sind aber nicht nur Eintrittspforten für Nützlinge, sondern auch für viele Erreger wie beispielsweise der Falsche Mehltau.

Falscher Mehltau im Blatt

Beim falschen Mehltau, eine der gefürchtetsten Rebkrankheiten, gelangen zunächst Sporen vom Boden mit Spritzwassertröpfchen auf die Blattoberfläche. Hier dringt der Pilz über die Spaltöffnungen in das Blatt ein, was man als Primärinfektion bezeichnet. Im Blatt ernährt sich der Pilz von Pflanzenzellen, bringt Blatteile zum Absterben und bildet vor allem neue Sporen aus. Nach etwa 14 Tagen tritt diese zweite Generation wieder aus dem Blatt aus und kann nun alle grünen Pflanzenteile befallen, auch Gescheine und junge Beeren, dies nennt man die Sekundärinfektion.

Während der Primärinfektion, wenn die Sporen des Falschen Mehltaus sich im Blatt vermehren, produziert die Rebe zur Bekämpfung des Pilzes giftige Stilbene. In den meisten Fällen genügt dies aber nicht, um den Parasiten wirklich Herr zu werden. Gäbe es allerdings bereits im Blatt  effiziente Gegenspieler, die die Fortpflanzung des Pilzes nach der Primärinfektion unterbinden oder wenigstens schwächen, wäre eine wirklich biologische Lösung für eines der ganz großen Probleme im Weinbau in Sicht.

Auswirkungen von Pestiziden und Dünger auf die Phyllosphäre

Die meisten der im Rebbau verwendeten Pilzbekämpfungsmittel wirken nicht spezifisch auf ganz bestimmte Arten, sondern auf viele verschiedene Pilzarten und auch auf andere Mikroorganismen. Durch den regelmäßigen, präventiven Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird das ökologische Gleichgewicht im Blatt und auf der Blattoberfläche stark beeinflusst. Dabei wird ein großer Teil der nützlichen Mikroorganismen abgetötet, was wiederum den Schädlingsdruck erhöht.

Rebblätter nach Pestizideinsatz

Auch der Einsatz von Mineraldüngern beeinflusst die Eigenschaften der Rebblätter als Biotop: Fette, dunkelgrüne Blätter aus Intensivproduktion schaffen ein ganz anderes mikrobielles Milieu als Blätter, die aus natürlichen Nährstoffquellen heranwachsen. Der Gehalt an leicht verfügbaren Nährstoffen des Blattes wird durch Düngergaben erhöht, wodurch das Milieu in den Blattzellen verändert wird. Auch die Eigenschaften der Cuticula, jener äußersten Schutzschicht aus Wachs, sind je nach Umwelt- und Wachstumsbedingungen unterschiedlich. Die Cuticula von sehr schnell wachsenden und stets mit ausreichend Wasser versorgten Blättern ist oft weniger widerstandsfähig als von Pflanzen, welche sporadisch Trockenstress ausgesetzt sind.

Lebewesen in der Phyllosphäre beeinflussen zudem die geochemischen Stoffkreisläufe zwischen Boden, Gewässern und Atmosphäre, da sie toxische Stoffe welche durch Wind und Regen auf das Blatt gelangen, um- und abbauen, bevor sie in den Boden gelangen. Werden die mikrobiellen Gesellschaften durch Pestizide verändert, wird somit sogar das globale Ökosystem geschwächt, und zwar unmittelbarer, als man bisher gedacht hat.

Was heißt das für den Weinberg?

Je höher die Vielfalt und Dichte von Pflanzenarten und Bestäubern ist, umso größer sind auch die mikrobielle Diversität und Dichte im Weinberg. Gegenspieler von Schadpilzen wie Oidium und Plasmopora könnten so gefördert und der Befall von Gescheinen und Trauben besser in Schach gehalten werden. Dass durch eine artenvielfältige Begrünung die Rebgesundheit gefördert wird, ist bereits seit längerem wissenschaftlich nachgewiesen [Flügel 2007]. Die Stärkung der mikrobiellen Aktivität in der Phyllosphäre könnte ein Grund dafür sein.

Die Oberfläche von Traubenstielen und Traubenbeeren sind in ihrer Eigenschaft als mikrobielle Biotope mit Blattoberflächen vergleichbar. Allerdings sind die Beeren durch eine ausgeprägte Wachsschicht besonders gut gegen eindringende Mikroben geschützt, wodurch offenbar auch die Grundlage für symbiotische Beziehungen fehlt. Spezialisten wie Botrytis und Echter Mehltau gelingt es unter bestimmten Bedingungen trotzdem, die Beerenhaut zu attackieren und sich Zugang zu den nährstoffreichen Säften im Inneren der Trauben zu verschaffen. Herrscht auf Trauben jedoch eine hohe Vielfalt an Hefen und Bakterien, so sinkt die Gefahr, dass problematische Arten Überhand nehmen. Eine hohe Hefedichte im Rebberg könnte zudem die Problematik von Essigbakterien auf verletzten Trauben entschärfen, denn je höher die Hefedichte auf dem Traubengut ist, umso rascher kann eine alkoholische Gärung einsetzen, wodurch unerwünschte Mikroben unterdrückt werden.

In einem Forschungsprojekt des Delinat-Instituts soll daher untersucht werden, inwiefern die Hefediversität auf den Trauben durch Begrünung beeinflusst werden kann. Eine blütenreiche Leguminosebegrünung sollte hier im Vergleich zu einer gräserdominierten Begrünung förderlich sein, da diese im Unterschied zu den windbestäubten Gräsern Blütennektar produzieren, der für Hefen eine wichtige Nahrungsquelle ist.

Aktive Förderung der mikrobiellen Vielfalt

Der Einfluss von Pflanzenschutzmitteln auf die mikrobielle Gemeinschaft auf den Rebblättern und in der Begrünung im Weinberg ist weitgehend unerforscht. Die Wirkung verschiedener Pestizide auf die Hefegesellschaften auf Trauben wurde hingegen in jüngster Vergangenheit mehrfach untersucht. Bei modernen synthetischen Fungiziden konnten schwach hemmende oder keine Effekte auf die Aktivität der Hefen nachgewiesen werden [Cadez et. al 2010]. Insbesondere Kupfer und Schwefel als kaum selektive Fungizide hingegen scheinen einen starken Einfluss zu haben [Comtini & Ciani 2008]. Obwohl diese Pestizide natürlichen Ursprungs sind und daher für die biologische Landwirtschaft erlaubt wurden, könnte ihr Einsatz negative Auswirkungen auf die Stabilität des Ökosystems im Weinbau haben. Biowinzer dürfen sich nicht damit abfinden, nur auf Chemie zu verzichten. Auch Biowinzer müssen ihre Bewirtschaftungsmethoden beständig hinterfragen und dürfen nicht nachlassen in ihrem Bemühen, die natürlichen Kräfte im Rebberg zu stärken, anstatt die Schädlinge wegzuspritzen, mit welchen Mitteln auch immer.

Je höher die Diversität der Pflanzen im Weinberg und je höher die Blatt- und Blütenmasse insgesamt ausfällt, umso höher ist auch die Menge und Vielfalt von Insekten und anderen Kleintieren, die im Weinberg ihren Lebensraum finden. Je mehr Insekten die Blätter und Blüten der Reben und Begleitpflanzen aufsuchen, desto mehr Stoffwechselprodukte hinterlassen sie dort. Diese Stoffwechselprodukte sind wiederum Nährstoffe für Mikroorganismen, die sich zudem über die Beine, Fühler und Mägen der Insekten rasch verbreiten und für eine hohe mikrobielle Diversität auf den Blättern sorgen. Dies führt nun seinerseits zu erhöhter Konkurrenz für etwaige Schadorganismen. In der Delinat Charta für Biodiversität wird daher nicht nur eine artenvielfältige Begrünung, sondern auch die Pflanzung von Büschen, Hecken und mindestens einem Baum pro Hektar gefordert. Gerade die hohe Blatt- und Blütenmasse der Bäume und Hecken übt einen enormen Einfluss auf die mikrobielle Vielfalt im Weinberg aus.

Auch Schädlinge sind Nützlinge, da sie anzeigen, wenn das System aus der Balance gerät, und uns auffordern, die Bewirtschaftungsmethoden zu ändern. Die Förderung der Biodiversität im Boden wie auf den Blättern wäre ein erster Schritt.

Zum ersten Teil des Artikels: Wie Pestizide und Dünger das biologische Gleichgewicht stören

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