Vom Sinn der Austriebsspritzung im Weinbau
von Hans-Peter Schmidt & Claudio Niggli
Während der Winterzeit sind die Knospen von Bäumen, Sträuchern und eben auch Reben ein beliebter Rückzugsort für Milben, Pilzsporen und unzählige Bakterienarten. Es ist ein richtiges Winterlager, wo sie dicht an dicht geschützt und warm unter den braunen Hüllblättern überwintern. Sobald im Frühjahr die Knospen aufspringen, befinden sich die winzigen Insekten ebenso wie die Pilze und anderen Mikroorganismen sogleich an Ort und Stelle. Die friedliche Eintracht ist dann vorbei. Vom Hunger und dem Drang nach Fortpflanzung getrieben, machen sie sich sowohl über die frischen Rebblättchen als auch übereinander her. Letzteres nutzt die Rebe wie auch alle anderen überwinternden Pflanzen aus, um ihr sich entfaltendes Blattwerk vor zu starkem Parasitenbefall zu schützen.
In aller Regel gibt es für jeden Parasiten auch einen Feind. Es sei denn die Feinde der Feinde wurden durch Monokulturisierung der Landschaft und/oder massiven Pestizideinsatz ausgerottet. Es kann allerdings auch sein, dass der Parasit von einem fernen Kontinent eingeschleppt wurde und die Pflanze in evolutionsgeschichtlich relativ kurzer Zeit noch kein Gegenmittel oder einen wirksamen Helfer gefunden hat. Für die Rebe ist letzteres beim echten Mehltau (Oidium) der Fall. Ersteres hingegen ist der Fall bei Kräusel- und Pockenmilben, die in einem Rebberg mit hoher Biodiversität zahlreiche Raubmilben zum Feind haben.
Kräusel- und Pockenmilben
Milben gehören zu den verhängnisvollsten Rebschädlingen aus dem Tierreich. Sie stechen mit ihren Saugstacheln Pflanzengewebe an, entziehen diesem Nährstoffe und schwächen die Pflanze zusätzlich, indem sie Deformationen des Gewebes auslösen. Milbenbefall wird allgemein als Acariose bezeichnet, abgeleitet vom systematischen Begriff Acari (lat., Unterklasse der Milben).
Pockenmilbe: Ein Befall der Reben durch Pockenmilben (Colomerus vitis) wird meist dadurch erkannt, dass sich auf der Blattoberfläche blasenartige Ausbuchtungen bilden, während die Einbuchtungen auf der Blattunterseite mit dichtem Haarfilz bedeckt werden. Dieser entsteht dadurch, dass die Milben eine übermäßige Ausbildung der rebeigenen Blatthärchen induzieren und damit eine Veränderung im Erbgut der Pflanzenzellen bewirken (Genmanipulation). In diesen schützenden Nischen mit optimalem Mikroklima können sich die Milben optimal vermehren. Da aber meist nur die unteren Blätter der Rebe befallen werden und die Blätter nicht absterben, sondern lediglich deren Photosyntheseleistung etwas eingeschränkt wird, stellen die Pockenmilben im Allgemeinen keine große Gefahr für die Rebe dar.
Bedeutend gefährlicher ist die mikroskopisch kleine Kräuselmilbe (Calepitrimerus vitis), die massenhaft in Weinkulturen auftreten kann. Die Dichte pro Blatt kann über tausend Milben erreichen und zu erheblichen Ertrags- und Qualitätsverlusten führen. Der Befall zeigt sich vor allem im Frühjahr auf den frisch ausgetriebenen Blättern. Es kommt zu Kümmerwuchs und zur Bildung von Doppel- oder Dreifachtrieben, dem sogenannten „Besenwuchs“.
Kräuselmilbe unter dem Elektronenmikroskop (Foto: Universität Basel); Kümmerwuchs aufgrund von Kräuselmilbenbefall (Foto: MLR Baden-Württemberg); Durchscheinendes Blattmuster durch späten Kräuselmilbenfraß
Wenn der Befall im Frühstadium nicht zu stark ist, wächst die Rebe schneller als sich der Parasit vermehrt, so dass sich das Krankheitsbild rasch auswächst. Bei starkem Befall hingegen kann es zu totalem Ernteausfall kommen. In einem späteren Stadium fallen die Kräuselmilben durch ihre Saugtätigkeit auf ausgewachsenen Blättern auf, welche zu annähernd sternförmigen und aufgehellten, fast durchscheinenden Blattmustern führen kann. Spätestens in diesem Stadium sollten aber die Raubmilben bereits aktiv genug sein, um größere Schäden abzuwenden.
Sowohl Kräusel- als auch Pockenmilben überwintern in den Rebknospen unter den braunen Hüllblättern. Beim Austrieb im Frühjahr nehmen sie ihre Aktivität auf und haben, da sie direkt an ihrer Nahrungsquelle sitzen, einen Vorsprung gegenüber ihren natürlichen Feinden. Die Raubmilben, die sich von Kräusel- und Pockenmilben sowie Roten Spinnen ernähren, überwintern an Altholz unter den Rindenschuppen. Sie sind, gerade bei sehr frühem Austrieb, noch nicht aktiv und warten bis sich ihre Nahrungsgrundlage ausreichend vermehrt hat. In einem Weinberg mit hoher Artenvielfalt und Begrünung sind während der Wachstumssaison kaum Bekämpfungsmaßnahmen nötig, da hier die natürlichen Gegenspieler, die Raubmilben, den Schaden an den Rebpflanzen effektiv auf ein Minimum reduzieren können. Da die Raubmilben allerdings sehr anfällig gegen Schwefelanwendungen sind, muss gerade im Bioanbau, wo noch häufig mit Schwefel gespritzt wird, die Population der Raubmilben überwacht und der Schwefeleinsatz reduziert werden.
Optimierung der Austriebsspritzung
Die hauptsächliche Gefahr durch Kräuselmilben herrscht im Zeitraum zwischen Knospenöffnung und 5-Blatt-Stadium, da erstens die Raubmilben in diesem Stadium noch nicht aktiv genug sind und weil zweitens die ersten 5 Triebe nur auf Grundlage der im Holz gespeicherten Nährstoffreserven wachsen. Die ersten 5 Blätter sind gewissermaßen der Starter, erst danach entwickelt die Photosynthese genug Energie, um das weitere Wachstum voranzutreiben. Werden aber die ersten 5 Blätter zu stark befallen, kommt die Photosynthese nicht genug in Gang und die gesamte Energieversorgung der Rebe gerät in Gefahr.
Aus den dargelegten Gründen werden im Wein- und Obstbau häufig sogenannte Austriebsspritzungen vorgenommen. Hierbei werden kurz vor Öffnung der Knospen die bereits stark angeschwollenen Knospen besprüht. Da nach der Öffnung der Knospen die Milben ungeschützt und noch sehr frühjahrsschwach sind, ist diese Behandlung in der Regel sehr erfolgreich. Im biologischen Anbau wird dafür meist Schwefel in Mischung mit einer Parafin- oder Harzemulsion (z.B. NU-Film oder Heliosol) als Bindemittel eingesetzt. Problematisch bei dieser Spritzung ist allerdings, dass die üblichen Spritzmethoden (Turbo, Gun, Atomiseur) nur eine sehr ungezielte Spritzung erlauben, wodurch enorme Mengen an Spritzmitteln unnütz das Rebholz, die Begrünung und den Boden abspritzen. Im Allgemeinen werden für die Austriebsspritzungen bis zu 20 kg Schwefel in 300 l Wasser pro Hektar eingesetzt, wovon weniger als 3% tatsächlich auf den Knospen ankommen.
Um die Spritzmittelmenge bei der Austriebsspritzung radikal zu reduzieren, empfiehlt es sich daher, die Arbeit lediglich mit einer Handspritze durchzuführen und nur ganz gezielt die Knospen zu behandeln. Auf diese Weise kann die Menge an Schwefel auf 1,2 kg pro Hektar und die Flüssigkeitsmenge auf 30 l reduziert werden. Der Arbeitsaufwand beträgt je nach Dichte der Pflanzung etwa 6 Stunden pro Hektar. Dies ist im Vergleich zur maschinellen Spritzung zwar viel, aber der Mehraufwand lohnt sich. Denn durch die enormen Schwefelmengen, die sonst das gesamte Rebholz und die Begrünung benetzen, werden Raubmilben und andere Nützlinge stark geschädigt, womit nachfolgende Schädlingsprobleme bereits vorprogrammiert sind. Zudem belastet der unnütz verspritzte Schwefel das noch fragile System der Bodenmikroorganismen, die sehr empfindlich auf Schwefel reagieren, wodurch die natürliche Ernährung der Rebe beeinträchtigt wird.
Austriebsspritzung ist auch gegen Oidium wirksam
Auch einer der gefürchtetsten Schadpilze im Weinbau, der Echte Rebenmehltau (Oidium) überwintert in Form von Pilzfäden in den schlafenden Knospen der Reben und/oder in winzigen kugeligen Fruchtkörpern (Kleistothecien). Die erste Variante herrscht in Mitteleuropa vor. Durch eine Schwefelbehandlung zum Zeitpunkt des Aufbrechens der Knospen im Frühjahr kann die Ausbreitung des Oidium-Pilzes frühzeitig eingedämmt werden, da Schwefel besonders stark auf auskeimende Mehltau-Sporen wirkt. Dank einer solchen Austriebsspritzung wird in den meisten Fällen ein späterer Befall deutlich reduziert und verzögert, wodurch im Saisonverlauf die Pflanzenschutzmaßnahmen gegen Oidium ebenfalls reduziert werden können.
Austriebsspritzungen nicht in jedem Fall nötig
Die Austriebsspritzung freilich ist nicht jedes Jahr nötig und sollte nur in folgenden Fällen durchgeführt werden:
- Wenn im Vorjahr ein deutlicher Befall mit Kräuselmilben festgestellt wurde. Denn nur wenn im Vorjahr eine ausreichend hohe Population die Reben befallen hat, überwintern auch hinreichend viele Schädlinge in den Knospen.
- Wenn der Knospensprung sehr frühzeitig in der Saison stattfindet. Denn dadurch wächst das Risiko eines langsamen Austriebs und damit der Schaden, der durch Kräuselmilben verursacht werden kann.
- Wenn im Vorjahr ein starker Befall mit Oidium verzeichnet wurde. Denn nur dann wachsen die Oidium-Hyphen in die jungen, bereits bis Mitte Juni gebildeten Knospen ein. Beim Guyot-Schnitt ist das Risiko im Allgemeinen höher, da Knospen überwintern, die erst relativ spät während der Vorsaison gebildet wurden. Bei Cordon Fix- oder Gobelet-Schnitt, wo nur die beiden ältesten Augen am einjährigen Holz zurückbleiben und durch abgefallene Hüllschuppen besser gegen die Infektion geschützt sind, ist die Gefahr etwas geringer, dass die Hyphen in der Vorsaison in die sich bildenden Knospen hineinwachsen sind.
Forschungsbedarf
Da sowohl die Schadmilben als auch die Oidium-Sporen zum Zeitpunkt der Austriebsspritzung noch schwach und sensibel sind, ist die Aussicht groß, den Schwefel schon bald durch pflanzliche Mittel zu ersetzen. Erste Versuche mit Wermut- und Senfextrakten sind vielversprechend, müssen sich aber noch im wissenschaftlich überwachten Versuchsbetrieb bewähren. Karbonate (z.B. Mehltauschreck) oder Tonerden (z.B.Mycosan) hingegen sind zu basisch bzw. zu sauer und würden die zarten Rebblätter gefährden.
Bitte schreiben Sie uns Ihren Kommentar