Mythopia als Forschungslabor

von Lotar Schüler

Wer die gewohnte Welt hinter sich lässt, entdeckt eine neue. Im Weinberg "Mythopia" wächst eine trinkbare Utopie. Auf 800 Höhenmetern ist man nicht nur näher am Himmel. Das Weingut ist auch ein Forschungslabor, in dem ganz auf Biodiversität gesetzt wird. Die Kulturzeit von 3Sat hat einen begeisternden Film in Mythopia gedreht.

Die Kulturzeit-Reportage auf Mythopia entstand im Rahmen der von Harald Welzer initiierten Reihe „Geschichten des Gelingens“. Der folgende Text lehnt sich an die Beschreibung des von Lotar Schüler gedrehten Filmes an und wurde um einige (kursiv markierte) Details ergänzt [Anm. der Redaktion]. Leider ist die Reportage nicht mehr online im 3SAT-Archiev zu sehen. "Wir versuchen hier zu zeigen, was möglich ist und dass noch viel mehr möglich ist als das, was man glaubt und sieht", sagt Winzer Hans-Peter Schmidt. "Dass man sich bedienen kann aus einem Repertoire von Natur, um seine Landwirtschaft wieder näher an die Natur heranzubringen." Auf dem Weinberg "Mythopia" gibt es spätestens alle 20 Meter einen Baum, einen Busch oder eine Kräuterinsel für Insekten, Pflanzen und Kräuter. Ein Drittel aller Schweizer Falterarten fliegt auf diesen Wein. Im herkömmlichen Weinbau regiert triste Monotonie. Der Weinberg "Mythopia" will dagegen blühende Landschaft sein. "Wir suchen Methoden zu entwickeln, die an verschiedenen Standorten in Europa im Weinbau umgesetzt werden können", erklärt Schmidt. "Ein Weinbau mit hoher Biodiversität, der stabil ist, das heißt, anstatt Schädlinge zu vernichten, versuchen wir zunächst Pflanzen zu stärken. Wir versuchen, die Pflanzen durch das ganze System, durch den Boden, von der Begrünung her und durch die Biodiversität insgesamt zu stärken."

Der Weinberg als Feldversuch

Die Kulturpflanze steht unter Beobachtung. Kenndaten des Bodens werden an den PC gefunkt. Der Weinberg als Feldversuch. Im Tal wird "Terra Preta" hergestellt, Schwarzerde. Selbsterzeugte Pflanzenkohle wird durch Kompostierung zu einem Speicher für Wasser und Nährstoffe.

Auf dem Berg steht das Delinat-Institut, in dem alle Fäden, Resultate und Datenleitungen Mythopias zusammenfließen. Die gemeinnützige Stiftung für Ökologie und Klimafarming, die vom Bioweinhändler Delinat und den Gründern Mythopias gemeinsam aufgebaut wurde, berät über einhundert Ökoweingüter in ganz Europa. "In vino veritas" - die Winzer hier suchen die Wahrheit im Wein. "Natürlich ist das ein Labor unter offenem Himmel, aber gleichzeitig ist es ein Weinberg und wir produzieren Wein", sagt Schmidt. "Am Ende muss alles, was wir hier machen, sich in der Qualität des Weines widerspiegeln und beweist sich erst dann. Erst wenn der Wein von seiner Qualität her überzeugt, dann sind auch die Methoden, die wir entwickeln, als fruchtbar bewiesen." An der Gipfeltafel des Weinbergs unter offenem Himmel lädt der Winzer zur Überprüfung ein. Ein Pinot Noir, am Gaumen samtig, feinkörniges Tannin. Trinkbare Grundlagenforschung.

Der Ästhetische Trieb

Weinbau in hoher Biodiversität bricht mit einigen überkommenen Regeln. Wo auf Chemie und großflächige Mechanisierung verzichtet wird, sieht es nun einmal etwas unaufgeräumter als in der Ordnung der herkömmlichen Reben aus. Winzer wie Landwirte überhaupt sind natürlich vom ästhetischen Trieb beeinflusst. Die gerade Linie, die man mit dem Traktor zieht, der saubere, unkrautbefreite Boden oder die bis zum Horizont fest eingebundenen Reben, darin erkennt man auf einen einzigen zurückgewandten Blick am Abend sein Tagewerk”. Diese Ordnung bedeutet eine ästhetische Befriedigung, die für das Selbstwertgefühl und die Bewertung der eigenen Arbeit eine enorme Rolle spielt. Die ästhetische Ordnung im Weinberg suggeriert dem Winzer, dass er die Kontrolle hat, dass er seine Reben beherrscht und Macht über seinen Besitz ausübt. In einem landwirtschaftlichen System mit hoher Biodiversität hingegen ist die Ordnung so komplex und auf keinen ersten Blick durchschaubar, dass die Ordnung der Vielfalt schnell als Unordnung abgetan wird. Unordnung ist ja ohnehin in der Psychologie wie in der Informatik oder auch der Thermodynamik vor allem dadurch gekennzeichnet, dass man die Ordnung der Unordnung nur nicht versteht. Das, was der Mensch als Ordnung bezeichnet, ist vor allem eine ungeheure Energieverschwendung. Energie, die aufgewendet wird, um ein System, das man nicht beherrscht, zumindest vom ästhetischen Standpunkt her so zu simplifizieren, dass man sich mit dem Eindruck täuschen kann, es wirklich zu beherrschen. Je kurzsichtiger der Mensch, desto größer müssen die Konturen sein, damit er überhaupt etwas erfasst. Die ästhetische Befriedigung, die man aus der geometrischen Ordnung eines Bewirtschaftungssystems ziehen kann, funktioniert auf derselben Ebene wie in alten Zeiten die Ordnung des Heeres, die der Feldherr von seinem Hügel überschaut. Es ist eine Kommandoebene. Je ästhetischer das Truppenkontingent vor Augen erscheint, desto sicherer meint man, den Überblick zu bewahren. In der Unordnung der Biodiversität hingegen muss man sich von dieser imaginären Kontrolle lösen und ein Stück weit die Macht wieder abgeben, der Natur zurückgeben. Im Weinberg mit hoher Biodiversität gewinnen dafür die Details und flüchtigen Momente wieder an Bedeutung. Hier eine seltene Blüte, da ein Schmetterling, die Symphonie der Vögel und Grillen. Es geht um die Fülle des Ganzen, die sich in der Aufmerksamkeit für die flüchtigen Details bemerkbar macht. Im Weingarten mit hoher Biodiversität weicht der fragwürdige Stolz darauf, Vater einer ästhetischen Zwangsordnung zu sein, jener Freude, Teil des komplexen natürlichen Systems zu sein. Das jedoch bedeutet nicht im Mindesten, dass der Winzer sich durch die Arbeit mit hoher Biodiversität jegliche Kontrolle aus der Hand nehmen ließe. Er organisiert einfach die Arbeit anders. Die Hierarchie ist flacher, die Pflanzen haben Mitspracherecht, der Winzer muss mehr und genauer beobachten und zuhören. Er nutzt Bienen, um die Traubenwickler in Schach zu halten, setzt Leguminosen ein, um Stickstoff in die Böden einzutragen, beobachtet den Zyklus der Mehltaupilze, um durch Behandlung zum rechten Zeitpunkt, massiven Befall zu verhindern.

Weinbau der Zukunft

Mythopia ist ein Wortspiel aus Mythos und Topos, also der Ort (topos), an dem das Wort (mythos) nicht nur gesprochen, sondern gelebt und verwirklicht wird. Zugleich lehnt sich der Name natürlich an die Utopie an, aber im Unterschied zur Utopie, die ursprünglich Unort bzw. Nichtort bedeutet, ist Mythopia tatsächlich und die Utopie zumindest im Kleinen geglückt. Mythopia ist, wo endlich aufgehört wird, der Welt die eigenen Ideale vorzuhalten, und stattdessen die Ideale an der Wirklichkeit passend geschliffen und geträumt werden. Weinbau ist eine alte Kulturtechnik, das

Weingut Mythopia

eine ökologische Insel innerhalb herkömmlicher Weingüter. Doch sagt man einem guten Glase Wein nicht seit jeher nach, es sei geeignet den Verstand zu wecken? "Der Weinberg ist gewisserweise das trojanische Pferd, mit dem wir in den Weinbau der Zukunft wollen", so Schmidt. Und die Zukunft erreicht man seit jeher am schnellsten, wenn man den Geist aus der Flasche lässt.

Bilder aus Mythopia

Der Walliser Fotograf, Patrick Rey, begleitet seit sieben Jahren die Entwicklung der Artenvielfalt in Mythopia. Anfang 2013 wird er einen Bildband darüber veröffentlichen. Eine große Auswahl seiner wundervollen Fotos aus Mythopia können Sie auf der Webseite: Capteurs de Nature betrachten.

Futur Zwei

Unter dem Titel "Futur Zwei" entsteht eine virtuelle Enzyklopädie von Geschichten über gelingende Gegenstrategien zum "business as usual". Futur Zwei ist die grammatische Form, mit der zum Ausdruck gebracht wird, das etwas gewesen, gelungen, misslungen sein wird, auf jeden Fall aber: es wird versucht worden sein. Werfen Sie einen Blick in die Enzyklopädie des Gelingens: www.futurzwei.org und erzählen sie weiter, was alles gelungen sein wird, wenn man es versucht.

Weitere Informationen zu dem Projekt Futur Zwei von Harald Welzer finden Sie in seinem lesenswerten Interview mit der Zeit: Wir sind nicht nett.

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